GEO 9/2002

Dank einer neuen, individuell einsetzbaren Software sollen Legastheniker leichter lesen lernen.

Sie lesen entweder stockend und fehlerhaft oder aber flüssig, ohne zu verstehen, was sie lesen: Etwa 10 Prozent der Grundschüler im deutschen Sprachraum bleiben in ihrer Lesefähigkeit deutlich hinter dem Klassendurchschnitt zurück. Nicht selten lautet die Diagnose: Legasthenie.

Eine solche Leseschwäche ist jedoch nicht unabänderlich, meint der Neuropsychologe Reinhard Werth vom Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin an der Universität München. Er therapiert seine kleinen Patienten seit neuestem mit einer Software, die er gemeinsam mit der Münchner Firma celeco entwickelt hat. Damit sei nicht nur die Ursache der Leseschwäche herauszufinden, sondern diese auch gezielt zu behandeln.

Lange galt Legasthenie als eine Störung des zuständigen Hirnareals. Für Werth aber ist „der Lesevorgang ein komplexes Netzwerk, das vieler Einzelleistungen bedarf – von der Bilderfassung auf der Netzhaut des Auges bis zu seiner Verarbeitung im Gehirn“. Und da könne unterwegs einiges schief gehen.

Schließlich sind die menschlichen Sehfunktionen nicht gerade ideal für das Lesen. Denn nur an einem einzigen Punkt auf der Netzhaut – an der etwa 1,5 Millimeter großen Fovea – wird die optimale Sehschärfe erreicht. Die Augen mässen das zu lesende Wort in dessen mittleren Bereich also genau fixieren. Wenn aber das Bild des Wortes auf der Netzhaut durch Fehlsteuerung der Augen nur um wenige Millimeter verschoben wird, kann es nicht mehr korrekt gelesen werden. Und genau das könnte Werth zufolge eine Ursache der Legasthenie sein.

Manche Kinder schauen, wie Werth beobachtet hat, beim Lesen aber auch einfach nicht richtig hin. Dadurch verfehlt ihr Blick entweder das Wort oder es wird nur so kurz betrachtet, dass sein Sinn nicht erfasst werden kann.

Hier vermag Werths Software zu helfen: Sie trainiert die Schüler, jedes Wortsegment lange genug zu fixieren. Buchstaben oder Wortsegmente werden in Zeiträumen von 100 bis 500 Millisekunden am Monitor gezeigt – je nach Aufnahmefähigkeit des Kindes. Benötigt es zu lange, um Wörter zu erfassen, so ist diese Fähigkeit durch Training, in dem die Zeitintervalle allmählich verkürzt werden, zu therapieren.

Andere machen während des Lesens zu große Blicksprünge: Dabei Überfliegen die Augen mehrere Buchstaben des Wortes. Aus Donnerstag wird beispielsweise Donntag. Für diesen Fall präsentiert die Software einen Text, bei dem das jeweils zu lesende Wortsegment farbig unterlegt ist. Die Markierung springt von einem Wortsegment zum anderen und bestimmt so die Größe der Blicksprünge. Damit der Leser beim Lesen eines Wortes nicht durch den Rest des Textes abgelenkt wird, ist dieser nur schwach zu sehen.

Manche Patienten wiederum buchstabieren jedes Wort. Dann hilft das Programm ihnen zu lernen, die einzelnen Schriftzeichen zu einem Segment zusammenzufassen. Dazu erscheinen Wörter oder Wortsegmente für weniger als 250 Millisekunden auf dem Monitor – ein Siebenjähriger kann in dieser Zeit ein Wort problemlos erkennen. Die kurze Darbietungszeit verhindert, dass die Kinder Buchstaben für Buchstaben betrachten und zwingt sie so, ganze Worte zu erfassen.

Laut Reinhard Werth ist das Programm individuell einsetzbar – und „bei entsprechender Motivation und etwa zehnminütiger, konzentrierter Übung pro Tag kann die Lesefähigkeit bereits nach weniger als drei Monaten entscheidend verbessert werden“