Lesen ist eine äußerst komplexe Tätigkeit, an der zahlreiche verschiedene Hirnleistungen beteiligt sind.

Um einen Text flüssig zu lesen, müssen die Augen eine vom Gehirn genau gesteuerte Abfolge von Ruhephasen und Blicksprüngen einhalten. Während der Ruhephasen sind die Augen unbewegt auf einen Ort (den Fixationspunkt) innerhalb eines Wortes gerichtet.
Hierbei wird das fixiert, was wir lesen wollen. Die Wahl des Ortes des Fixationspunktes hat physiologische Gründe: Nur im Bereich des Fixationspunktes besteht eine ausreichend hohe Sehschärfe, um Buchstaben einer normalen Druck – oder Schreibschrift ausreichend klar zu sehen. Da dieser Bereich höchster Sehschärfe auf der Netzhaut nur einen Durchmesser von etwa 1,5 mm hat, muss das, was man sehen will, im Bereich ausreichend hoher Sehschärfe liegen. Die genaue Position dieses Fixationspunktes hängt davon ab, wie viele Buchstaben das zu lesende Wort oder Wortsegment umfasst. Bei normalen Lesern liegt der Fixationspunkt etwas links von der Mitte des zu lesenden Wortsegments/Wortes.

Ganzheitliches Erfassen eines Wort(segments)

Während der Fixationsphase wird das zu lesende Wortsegment/Wort nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern ganzheitlich erfasst. Ähnlich wie wir auch ein Gesicht nicht dadurch erkennen, dass wir Nase, Mund, Augen und Ohren nacheinander betrachten, anschließend zu einem Gesicht zusammensetzen und erst dann beurteilen, um welche Person es sich handelt, sondern als ganzes sehen und erkennen, so sehen und erkennen wir auch ein Wort/Wortsegment als Ganzes.

Individuelle Segmentgrößen

In jeder Fixationsphase muss entschieden werden, wie groß das zu lesende Wortsegment sein darf. Dies hängt wiederum davon ab, wie die Fähigkeit des jeweiligen Lesers zum ganzheitlichen Erkennen von Buchstabenverbindungen ausgebildet ist, denn hier gibt es ganz erhebliche Unterschiede. Es reicht nicht aus, die graphische Gestalt eines Wortsegments/Wortes genau zu sehen und dabei auch die in ihm vorkommenden Buchstaben in allen Einzelheiten zu erkennen. Um ein Wort zu lesen, muss mit dem Wortsegment/Wort eine Lautfolge verbunden werden. Wir müssen dazu in der Lage sein, zu Buchstaben und Buchstabenverbindungen gehörende Laute und Lautfolgen im Gedächtnis zu speichern und im Augenblick des Lesens, das im Gedächtnis Gespeicherte rasch und ohne Fehler abzurufen. Zusätzlich muss auch die Bedeutung von Wörtern und Sätzen aus dem Gedächtnis abgerufen bzw. erkannt werden.

Der Blicksprung

Jede Fixationsphase wird durch einen Blicksprung beendet. Innerhalb jeder Fixationsphase muss deshalb nicht nur festgestellt werden, wie lange die Fixation beibehalten werden muss, um das zu lesende Wortsegment/Wort richtig zu erkennen. Auch die Größe des bevorstehenden Blicksprungs und der Ort, zu dem die Augen springen sollen, muss richtig bestimmt werden. Während des Blicksprungs gleiten die Augen mit hoher Geschwindigkeit über Wortsegmente. Um zu vermeiden, dass während des Blicksprungs ein verschwommenes, bewegtes Bild entsteht, müssen die Sehleistungen während des Blicksprungs unterdrückt werden. Wenn das neue Blickziel erreicht ist, müssen sie sich hinreichend rasch erholen, damit das neue Wortsegment/Wort gelesen werden kann. Das flüssige Lesen besteht somit aus einer Abfolge von Fixationsphasen und Blicksprüngen, während derer visuelle Leistungen ununterbrochen an- und abgeschaltet werden.

Literatur und Fortbildungen

Das Buch zum Thema: „Legasthenie und andere Lesestörungen – wie man sie erkennt und behandelt“ von Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth (klinischer Neuropsychologe von der LMU München). Aktuelle Vorträge und Fortbildungen finden Sie im Veranstaltungskalender.