Psychologie Heute

Ein Computerprogramm verhilft Legasthenikern zu schnellen Erfolgserlebnissen

Genau in der spannendsten Szene geht der Fernseher kaputt. Das Bild ist schwarz, nichts geht mehr. Der Fernsehmechaniker kommt, zerlegt das gute Stück und überlegt, woran es liegen könnte. Er prüft die Sicherungen, misst Leitungen durch und ersetzt das kaputte Modul. Der Fernseher funktioniert wieder. Mit der Behandlung der „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ – ehemals als Legasthenie bezeichnet – könne man ähnlich verfahren und genauso effektiv sein, sagt Reinhard Werth vom Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Universität München. Sobald die richtige Ursache gefunden ist, man sozusagen das defekte Modul entdeckt hat, können Kinder sofort fehlerfrei lesen. So verspricht es der Neuropsychologe. Er hat ein Computerprogramm entwickelt, das er zur Therapie und Diagnose einsetzt und das es auch zu kaufen gibt. Bislang wird Legasthenie mit speziell entwickelten standardisierten Testverfahren diagnostiziert und durch logopädische Übungen kompensiert. Das heißt, es gibt jede Menge Nachhilfestunden, in denen das Kind pauken muss, nach welchen Regeln man korrekt schreibt und spricht. Das Problem dabei: Alle Legastheniker bekommen die gleiche Behandlung. Individuelle Unterschiede werden nicht berücksichtigt. An dieser Stelle setzt Reinhard Werth an. Für den Münchner Medizinpsychologen gibt es nicht den Legastheniker. Lesen ist für ihn das Ergebnis zahlreicher Hirnleistungen. Die verschiedenen für das Lesen zuständigen Regionen sind über weite Bereiche des Gehirns gestreut. Lesen kann man dann, wenn es dem Gehirn gelingt, diese verschiedenen Areale zu einem geordneten Zusammenwirken zu bewegen. Sind jedoch eine oder mehrere dieser Hirnleistungen oder deren Koordination gestört, kann es zu Leseproblemen kommen. Um die Bereiche ausfindig zu machen, in denen Koordinations- oder Aufnahmeschwierigkeiten bestehen, geht Werth im Prinzip nicht anders vor als der Fernsehmechaniker. Er sucht nach dem defekten Modul. Dazu benutzt er ein selbst entwickeltes Computerprogramm namens celeco. Dieses beinhaltet Übungen, mit denen systematisch Störquellen ausfindig gemacht werde. 14 große Untergruppen von Lesestörungen hat Werth identifizieren können, wie zum Beispiel den „zu früh aussprechenden Legastheniker“. Normalerweise lassen wir beim Lesen unseren Blick nicht von einem Buchstaben zum anderen fließen, sondern fixieren ein ganzes Wort beziehungsweise Wortsegment. Die zu der gesehenen Buchstabenfolge gehörende Lautfolge und ihre Bedeutung werden im Gehirn abgerufen, und dann vollziehen wir einen Blicksprung. Die Abrufzeit beträgt bei Kindern im Alter von sieben Jahren höchstens 300 Millisekunden. Ein „zu früh aussprechendes“ legasthenisches Kind braucht dazu mehrere Sekunden. Wenn es versucht, schneller zu lesen, kann das Gehirn nicht lange genug nach dem richtigen Wort in seinem Speicher suchen. So rät das Kind – und bekommt im Fach Lesen eine sechs. Um zu überprüfen, ob ein Kind ein „zu früh aussprechender Legastheniker“ ist, gibt Werth dem Kind auf dem Monitor einzelne Wörter zu lesen. Zuerst wird das Wort für 200 Millisekunden gezeigt. Liest das Kind das Gezeigte falsch, gibt Werth dem Wort ein Signal hinzu, das erst nach mehreren Sekunden ertönt. Erst wenn es das Signal hört, darf das Kind das Wort laut aussprechen. In vielen Fällen kann es mit dieser Geschwindigkeit zum ersten Mal in seinem Leben fehlerfrei lesen. Dann reduziert Werth die Wartezeit bis zu dem Signal, bei dem das Kind beginnt, Fehler zu machen. So erhält er eine Richtgröße, die bei einem „zu früh aussprechenden Legastheniker“ bei drei oder mehr Sekunden liegen kann. Das bedeutet, dieses Kind kann fehlerfrei lesen, wenn es sich für jedes Wort oder Segment mindestens drei Sekunden Zeit nimmt. Somit hat Werth das defekte Modul schnell gefunden und kann es gegen ein funktionierendes, nämlich eine längere Abrufzeit eintauschen. Das neue Leseverhalten muss das Kind jetzt üben. Es soll zuerst seine individuelle Abrufzeit verinnerlichen und diese danach sukzessive verringern. Dazu bekommt es die Übung mit seiner individuellen Abrufzeit auf einer USB-Stick mit nach Hause. In regelmäßigen Abständen finden weitere Sitzungen mit dem Therapeuten statt, in denen die Abrufzeit nach und nach herunterreguliert wird. Werth hat bei zahlreichen von ihm behandelten Legasthenikern die Erfahrung gemacht, dass bei täglichem Üben von etwa 15 Minuten das Kind in drei Monaten flüssig und fehlerfrei auch ohne Computerprogramm lesen kann. „Es wird zwar ein langsamer Leser, aber es wird fehlerfrei lesen und verstehen lernen“, erklärt Werth. Eine andere Untergruppe sind „buchstabierende Legastheniker“. Viele als legasthenisch bezeichnete Kinder haben erhebliche Schwierigkeiten damit, den Schritt vom Buchstabenlesen zum Wörterlesen zu vollziehen. Das heißt, das Kind kann einzelne Buchstaben richtig lesen, doch in dem Moment, in dem die einzelnen Buchstaben zu einem vollständigen Wort zusammengefügt werden, wird dieses nicht erkannt. Auch für diese Schwäche bietet das celeco – Programm Trainingsstrategien an, ebenso wie für „Zu-großer-Blicksprung-Legastheniker“. Diese Kinder erfassen nur vier Buchstaben auf einmal, springen aber mit dem Blick sechs oder acht Buchstaben weiter. Die übersprungenen Buchstaben raten sie, mal falsch, mal richtig. Laut einer Studie hat Werths Verfahren eine Erfolgsquote von 100 Prozent. Im Moment stellt Reinhard Werth ein Computerprogramm zur Behandlung der Schreibschwäche fertig, das im Frühjahr 2004 auf den Markt kommt.

Beatrice Wagner