Winkelfehlsichtigkeit hat keinen Einfluss auf die Leseleistung

Von Prof. Dr. Dr. R. Werth

Beim Blick auf ein entferntes Objekt sind die Achsen beider Augen auf dieses Objekt gerichtet, so dass das Bild des Objekts in beiden Augen auf sich entsprechenden (korrespondierenden) Netzhautstellen abgebildet wird. Dann kann das Gehirn die Bilder beider Augen zu einem Bild verschmelzen (fusionieren). Doch auch wenn ein Auge nicht genau auf das zu fixierende Objekt gerichtet ist und eine Augachse so ausgerichtet ist, als befände das zu fixierende Objekt sich etwas vor oder hinter dem tatsächlich zu fixierenden Objekt (d. h. im Panum-Areal) und des Bild des tatsächlich zu fixierenden Objekts nicht genau auf korrespondierenden Netzhautarealen abgebildet wird, können die Bilder der Netzhaut beider Augen noch vom Gehirn zu einem Objekt verschmolzen werden. Dies gilt allerdings nur für geringe Abweichungen beider Augachsen.

Abweichung von der idealen Augenstellung

Neigen die Augen dazu, etwas von der idealen Augenstellung abzuweichen, so kann diese leichte Abweichung auch spontan dadurch kompensiert werden, dass das abweichende  Auge seine Stellung korrigiert. Hält man z. B. ein Prisma vor ein Auge einer normal sehenden Person, so dass das fixierte Objekt nicht mehr auf einer Netzhautstelle abgebildet wird, die der Netzhautstelle des anderen Auges entspricht (nicht korrespondierende Netzhautstelle) so führt das Auge, dem ein Prisma vorgeschaltet wurde, automatisch eine Ausgleichsbewegung aus. Diese lässt das fixierte Objekt wieder auf einer korrespondierenden Netzhautstelle erscheinen.

Versuch mit Prisma

Auch wenn bei normalen Lesern/Leserinnen  durch die Vorschaltung von Prismen von bis zu 6 Prismendioptrien künstlich eine Abweichung einer Augachse nach innen oder nach außen hergestellt wurde, hatte dies keinen Einfluss auf die Leseleistung. (Dysli und Vogel 2014). Nur wenn die Abweichung eines Auges so groß ist, keine ausgleichende Augenbewegung diese Abweichung korrigieren kann und dass das Gehirn die beiden Netzhautbilder nicht mehr verschmelzen kann, so entstehen Doppelbilder.

Winkelfehlsichtigkeit

„Winkelfehlsichtigkeit“ ist ein Begriff, der in der wissenschaftlichen medizinischen Optik nicht verwendet wird. Unter der Winkelfehlsichtigkeit wird eine geringe Fehlstellstellung der Augen verstanden, die nur beim von H.-J. Haase vorgeschlagenen Messverfahren in Erscheinung tritt und als eine Form der Heterophorie, d. h. des latenten Schielens, interpretiert wurde. Damit soll die Gewichtung (Prävalenz) eines Auges beim Sehen festgestellt werden.

Valenztest zur Winkelfehlsichtigkeit nach Haase

Beim Valenztest nach Haase muss eine Marke in 5-6 m Entfernung fixiert werden. Oberhalb oder unterhalb der zu fixierenden Marke wird ein Dreieck etwa 1,5 m vor oder hinter dieser Marke geboten. Ist keines der beiden Augen bei dieser Richtungswahrnehmung vorherrschend, besteht also Äquivalenz beider Augen, so werden beide Dreiecke mittig zur Fixationsmarke gesehen. Werden die Dreiecke jedoch als zur Mitte der Fixationsmarke seitlich versetzt wahrgenommen, so wird dies als größere Gewichtung (Prävalenz) eines Auges interpretiert. Besteht Prävalenz eines Auges, so soll diese nach Haase durch vor das Auge geschaltete Prismen in Äquivalenz überführt werden. Zeigen sich unterschiedlich große Prävalenzen für Dreiecke vor und hinter der Fixationsmarke, so wird dies als Zeichen einer geringen Fehlstellung der Augen interpretiert und ein fixiertes Bild nicht in beiden Augen auf exakt den gleichen Retinaarealen abgebildet wird (Schroth V, ldschinski 2001; IVBS 2912) .

Dieser geringe Unterschied in der Prävalenz beider Augen soll durch Prismen korrigiert werden, so dass die Prävalenz eines Auges verschwindet. Untersuchungen zeigten jedoch, dass die Prävalenz eines Auges bei normal sehenden Personen die Regel ist und bei 70 bis 80 % der Bevölkerung nachgewiesen werden kann, ohne dass dies die visuellen Leistungen in jedem Fall beeinflusst (Kommerell und Kromeier 2002; Kříž und Skorkovská 2017). Studien zeigten auch, dass die durch den Test von Haase gemessene Prävalenz eines Auges keine zuverlässige Messung ist und dass die Prävalenz eines Auges sich nur in Ausnahmefällen durch Prismen aufheben lässt (Schroth, Jaschinski 2007).

Abhängigkeit der Körperhaltung

Die Winkelfehlsichtigkeit, die durch die von Haase vorgeschlagene Messmethode  festgestellt wurde und deren Korrektur durch Prismen, wie sie von Haase propagiert wurde, hatte keinen Einfluss auf die Leseleistung (Jainta und Joss 2019). Ein Vergleich von Kindern mit einer Dyslexie mit normalen Lesern zeigte keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen, einer leichten vertikalen Heterophorie und den Leseleistungen. Die Heterophorie schien in Abhängigkeit der Körperhaltung der Kinder aufzutreten (Quercia et al. 2015).
Unsere Untersuchungen an Kindern mit Legasthenie (Werth 2006; 2018; 2019, 2021; Klische 2017) zeigen eindeutig, dass die Legasthenie keine Folge der Winkelfehlsichtigkeit ist. Alle Untersuchungen an mehr als 350 Kindern belegen, dass sich eine dramatische Verbesserung der Leseleistung unmittelbar einstellte, wenn folgende für das Lesen wichtige Teilleistungen von einer Software so gesteuert wurden, dass sie für das Lesen angemessen waren:

  • Das Simultanerkennen
  • Die Fixationszeiten
  • Die Zeiten von der Darbietung des zu  lesenden Materials bis zur richtigen Aussprache
  • Die Augenbewegungen

Literatur

Dysli M, Vogel N, Abegg M. Reading performance is not affected by a prism induced increase of horizontal and vertical vergence demand. Front Hum Neurosci. 2014; 8; 431. doi:10.3389/fnhum.2014.00431.

Schroth V, ldschinski W Beeinflussen Prismen nach H.-J. Haase die Augenprävalenz?
Klein Monatsbl Augenheilk 224, 2001, 32-39.

IVBS, Internationale Vereinigung für Binokulares Sehen. Richtlinien zur Anwendung der MKH. 2012

Kommerell, G., Kromeier, M. Prismenkorrektion bei Heterophorie. Ophthalmologe 99, 3–9 (2002). https://doi.org/10.1007/PL00007112.

Kříž P, Skorkovská Š. Distance associated heterophoria measured with polarized Cross test of MKH method and its relationship to refractive error and age. Clin Optom (Auckl). 2017 Mar 31;9:55-65. doi: 10.2147/OPTO.S123436. PMID: 30214361; PMCID: PMC6095580.

Schroth V, Jaschinski W. Beeinflussen Prismen nach H.-J. Haase die Augenprävalenz? [Do prism corrections according to H.-J. Haase affect ocular prevalence?]. Klin Monbl Augenheilkd. 2007 Jan;224(1):32-9. German. doi: 10.1055/s-2006-927268. PMID: 17260317.

Jainta S, Joss J. Binocular advantages in reading revisited: attenuating effects of individual horizontal heterophoria. J Eye Mov Res. 2019 Dec 9;12(4):10.16910/jemr.12.4.10. doi: 10.16910/jemr.12.4.10. PMID: 33828742; PMCID: PMC7880141).

Quercia P, Quercia M, Feiss LJ, Allaert F. The distinctive vertical heterophoria of dyslexics. Clin Ophthalmol. 2015;9:1785-1797. Published 2015 Sep 25. doi:10.2147/OPTH.S88497.

Werth R: Therapie von Lesestörungen durch Erkennen und Beheben der Ursachen
Ergotherapie und Rehabilitation 9 (2006b) 6-10.

Werth R: Rapid improvement of reading performance in children with dyslexia by altering the reading strategy: a novel approach to diagnoses and therapy of reading deficiencies. Restor Neurol Neurosci 36, 2018, 679-691 2018.

Werth R: Dyslexic readers improve without training when using a computer-guided reading strategy. Brain Sci. 2021, 11(5), 526

Werth R: What causes dyslexia? Identifying the causes of dyslexia and effective compensatory therapy
Restorative Neurology and Neuroscience , 37, 2019, 2019, 1-18.

Klische A , Leseschwächen gezielt beheben. Tectum, Baden-Baden, 2007.