BUS 40 – 2/2000
Durch die „Unfähigkeit oder verminderte Fähigkeit, das Lesen und Schreiben auf dem für das Alter zu erwartenden Niveau zu erlernen“, wird zahlreichen Schülern und Schülerinnen ein Schulabschluss vorenthalten, den sie aufgrund ihrer sonst guten und in manchen Fällen sogar weit überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten mühelos erreichen könnten. Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus hat den Umgang mit Legasthenie und Teilleistungsstörungen in bayerischen Schulen neu geregelt (s. Amtsbl. Dez. 1999). Hierdurch wird die Schlüsselrolle der Lehrer in der Diagnose und im Umgang mit lese- und rechtschreibschwachen Schülern weiter ausgebaut. Der Appell zur Rücksichtnahme auf die besondere Erschwernis, der diese Kinder ausgesetzt sind, soll helfen, eine Unterbewertung der betreffenden Schüler und Schülerinnen zu vermeiden. Die Vorschrift gezielter Fördermaßnahmen will die Lese- und Rechtschreibschwäche lindern oder beheben, um einen angemessenen Schul- und Berufsweg zu ebnen.
Wie in den Richtlinien der Staatsregierung korrekt charakterisiert, handelt es sich bei dem, was unter den Begriff der Legasthenie subsummiert wird, um eine biologisch bedingte Störung mit unterschiedlichen Ausprägungen, die auf ganz verschiedenen Ursachen beruhen kann. Die Bedeutung ursachenbezogener Fördermaßnahmen lassen sich an zwei einfachen Beispielen aus der therapeutischen Praxis verdeutlichen. So beobachtet man z.B. bei einer großen Zahl von Kindern, die in ihren Leseleistungen weit hinter den Leistungen ihrer Klassenkameraden zurückbleiben, eine völlig falsche Blickstrategie mit unangemessen kurzen Fixationsphasen. Das sind Ruhephasen der Augen, innerhalb derer mehrere Buchstaben (Wortsegmente oder Wörter) gleichzeitig gelesen werden. Diese Kinder erwecken den Eindruck, dass sie einfach nicht richtig hinsehen, was im Text geschrieben steht. Endungen oder ganze Wörter werden ausgelassen, gelesene Wörter sind entstellt, oft scheinen die Kinder geradezu zu phantasieren, was im Text stehen könnte. übt man mit diesen Kindern nur das Lesen, ohne die inadäquaten Fixationsphasen zu korrigieren, so ist keine entscheidende Besserung zu erreichen und die zu kurzen Fixationsphasen können sich weiterhin verfestigen. Wurde die Blickstrategie bei den vom Autor therapierten Kindern, die an einer derartigen Lesestörung litten, jedoch korrigiert, so kam es binnen weniger Wochen zu einer drastischen Reduktion der Fehlerraten. Das gleiche gilt für Lesestörungen, in der Wortsegmente zwar lange fixiert werden, jedoch versucht wird, innerhalb einer Fixationsphase mehr Buchstaben simultan zu erkennen, als es dem betreffenden Leser möglich ist. Hier kommt es darauf an, dem Schüler eine Lesestrategie zu vermitteln, bei der innerhalb einer Fixationsphase nur so viele Buchstaben erkannt werden sollen, wie es der Fähigkeit des Schülers entspricht. Es würde auch hier nicht zum Ziel führen, nur das Lesen zu üben, ohne die Ursache der Störung zu berücksichtigen.
Meist ist es nicht eine einzige Ursache, die die Lesestörung hat entstehen lassen. Mehrere Ursachen überlagern und beeinflussen sich. Dennoch wurden ursachenbezogene Lesetherapien bisher nur in Ausnahmefällen durchgeführt. Eine ursachenbezogene Förderung war schon deshalb nicht realisierbar, weil die Untersuchung von Lesestörungen in aller Regel keine angemessene Ursachenforschung beinhaltete, denn sie ist technisch aufwendig und in der Regel universitären Forschungseinrichtungen vorbehalten. Heutige Erkenntnisse über die am Lesen beteiligten biologischen Abläufe und ihre Störungen versetzen uns in die Lage, computergestützte Verfahren zu entwickeln, die eine rasche und dennoch für die Praxis hinreichend genaue Eingrenzung der Ursachen von Lesestörungen ermöglichen. Darüber hinaus lassen sich Programme zur Therapie von Lesestörungen entwerfen, die auf die Ursachen der Lesestörung zielen. Derartige Entwicklungen sollten in enger Kooperation mit Lehrern und Lehrerinnen, in deren Hände die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Diagnostik und Therapie von Lesestörungen weitgehend liegt, stattfinden.
Am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München haben wir aufgrund langjähriger Erfahrung in der Diagnostik und Therapie von Lesestörungen computergestützte Verfahren entwickelt, die in den bekannten Lesetests nicht erfassbare Ursachen von Lesestörungen erkennbar machen und die eine ursachenbezogene Therapie erlauben. Wir haben diese Verfahren seit mehreren Jahren in der klinischen Praxis angewendet und können sie nun auch Lehrern und Lehrerinnen zur Verfügung stellen. Wir möchten Lehrer und Lehrerinnen aus Grundschulen bitten, sich an einer Erprobung computergestützter Diagnose- und Therapieverfahren zu beteiligen und ihre Erfahrungen und Ratschläge in die Weiterentwicklung einzubringen.
Interessierte melden sich bitte bei celeco unter
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Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth