Süddeutsche Zeitung Nr. 39 Freitag, 15. Februar 2002

Rund vier Prozent aller deutschen Schulkinder tun sich beim Lesen und Schreiben lernen, obwohl sie normal intelligent und belastbar sind, so schwer, dass sie als Legastheniker gelten. Förderung und Training haben meistens wenig Erfolg – bis jetzt. Doch nun gibt es eine neue Methode, mit der Praktiker wie etwa Bettina Kinn, die Leiterin des Forums Legasthenie im Sabel-Schulzentrum, „äußerst positive Erfahrungen“ machen. Das patentierte computergestützte Diagnose- und Übungsprogramm für Lehrer, Therapeuten und Eltern basiert auf den Forschungen des Münchner Neuropsychologen Reinhard Werth vom LMU – Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin. Werth behandelt seit langem auch Kinder, die nach Unfällen oder Schlaganfällen erblindet sind. Er hat die Methoden der Gesichtsfeldbestimmung weiter entwickelt und schließlich ein Sehtrainingsgerät für ältere Kinder mit Teilerblindung bauen lassen. Das sprach sich bei den Kinderärzten herum, und bald schickten sie ihm auch kleine Patienten mit Lesestörungen zur Untersuchung auf eventuelle neurologische Ursachen. „Dabei hat sich gezeigt, dass die Diagnose Legasthenie viel zu grob ist“, sagt Werth. In Wirklichkeit handele es sich um eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsstörungen. „Lesen“ spielt sich offenbar in drei Phasen ab: auf das reine Sehen eines Wortes oder Wortteils reagiert das Gehirn mit der „Fokussierung der Aufmerksamkeit“. Danach folgt das „Erkennen“ – das Gedächtnis verbindet die Buchstaben mit Lauten und dann mit einer Bedeutung. Erst danach geht’s weiter mit einem „Blicksprung“ zum nächsten Wort (-teil). In jeder dieser Phasen, so Werth, kann es Defekte geben. Besonders häufig sind Sehstörungen durch „unpassende Augenbewegungen“. Oder unbewusste Aufmerksamkeitsmängel, die dazu frühren, dass ein Kind von einem Wort nur zwei, drei Buchstaben erfasst. Oder der Blicksprung ist wegen einer Fehlsteuerung des Gehirns, „die aber keine Hirnschädigung ist“, zu groß und das Kind überspringt ganze Wortteile. Manche Kinder versuchen auch unbewusst die Worte im Ganzen zu erkennen. Das klappt bei kurzen wie etwa „ich“, nicht aber bei Wörtern mit fünf und mehr Buchstaben. Alle diese Störungen kann man, wenn sie nur exakt genug diagnostiziert sind „sehr gut regulieren“, erklärt Werth, der darüber kürzlich auch ein Buch veröffentlicht hat („Legasthenie und andere Lesestörungen. Wie man sie erkennt und behandelt“, Becksche Reihe). Dazu reichen „schon zwischen zwei Wochen und drei Monaten mit fünf bis zehn Minuten Übung täglich“. Dafür hat Werth gemeinsam mit dem Elektrotechnik-Ingenieur Tobias Barner eine spezielle Software entwickelt und mit Unterstützung des Bayerischen Wissenschaftsministeriums die Vertriebsfirma „celeco GmbH“ gegründet. Das Prinzip ist schwer zu erklären, in der Anwendung durch das Kind aber sehr einfach: Je nachdem, was im einzelnen trainiert werden soll, wandert der Cursor am Bildschirm langsam oder schnell über die Wörter des Übungstextes. Manche Legastheniker-Kinder müssen üben, „überhaupt mal richtig hinzugucken“, so Werth. Andere sehen zwar korrekt, doch es hapert beim Erkennen der Bedeutung. Auch dafür gibt es spezielle Programme, die an ein Ratespiel erinnern. Werth spricht von erstaunlichen Erfolgen: „Manche Kinder hatten es bei mir im Labor nach einer halben Stunde heraus.“ In sehr hartnäckigen Fällen könne es auch ein halbes Jahr dauern. Versager? „Die gibt es nur ganz selten“. Davon versucht er nun landauf, landab, mit Vorträgen in der Lehrerakademie in Dillingen, in Schulen und bei Logopäden die Fachleute zu überzeugen. übrigens: Anders als Schulbücher berücksichtigt das Bildschirm-Training bei der Grafik die Tatsache, dass sehr viele Buben rot-grün-blind sind, also Rot und Grün verwechseln. „Das ist wichtig, denn unter Legasthenikern sind kaum Mädchen.“ Warum das so ist, kann Werth, der sich als Hirnforscher auch mit Studien über die neurobiologischen Grundlagen des Bewusstseins einen Namen gemacht hat, noch nicht sagen.

Elisabeth Höfl-Hielscher